Montag, 5. November 2018

Analyse einer Rettung im Hochseilgarten

Es war einer dieser chill-out Tage, wo man mit der Arbeit fertig ist und sich fragt: Was mache ich heute den ganzen Tag? Ich hatte meine Inspektion beendet, genoss die Pufferzeit und schrieb am Bericht. Nebenbei fand ein Train the Trainer statt.
Eigentlich hatte ich beschlossen, ins nahe Wirtshaus auf einen Latte Macchiato zu gehen, aber aus einem unerfindlichen Grund (meine Freunde kennen das schon …. die Stimmen in meinem Kopf …) blieb ich auf der unbequemen Treppe sitzen.
Der Tag sollte eine ganz andere Wendung nehmen.
Vorweg: Das meiste, was in Seilgärten mit Rettung bezeichnet wird, verdient diesen Namen nicht und ist ganz normale betriebsbedingte Unterstützung: Hinunterlassen von Plattformen und ähnliches.
Rettung bedeutet: Unvorhergesehen, unplanbar und lebensbedrohlich, daher hoher Zeitdruck.
Die Natur gibt uns folgende Zeitvorgaben: Atemstillstand, Herzstillstand: Maximal 3 Minuten bis zur Reanimation. Hängetrauma ca. 15 Minuten. Diese 15 Minuten beginnen zu laufen, sobald der Hängende die Beine nicht mehr bewegen kann (Muskelpumpe und so) und langsam „unklar“, eindeutig erschöpft wird.
So – ich saß auf meinem Basislager, schrieb relaxed auf meinem PC, genoss die Natur, als jemand zu mir kam und fragte, ob ich ein Rescue Kit hätte. Ich sagte nein. Das Problem: „Dort hängt schon einer seit 7 Minuten und wir müssen ihn schnell runterkriegen".
Offensichtlich war das nun meine Aufgabe. Denn: „Ich glaube, ich kann eins zusammenstellen.“ Von null auf hundert, Kaltstart. Ich sprang in meinen Gurt, Helm, nahm meinen Rucksack, wo ich 15 m 6mm Dyneemaseil habe und ging Richtung Verunglückten. 
In diesem Bild sieht man meine beschränkte Ausrüstung.


 Dazu hatte ich noch dieses Seil:

Dabei ging ich in Gedanken alles durch. Wichtig war, den richtigen Parcours zu erwischen. Das gelang mir auch mit Doppelcheck.
Dank meiner Einhandrolle war ich in 1 Minute beim Verunglückten. Ein anderer Teilnehmer war bei ihm, auf der Plattform, aber da der Verunglückte an die 100 kg hat, ist es ihm nicht gelungen, ihn auf die Plattform zu ziehen.
Das wichtigste ist, vor allen anderen Aktionen dem Hängenden eine Steigschlinge zu geben: Das ist eine Bandschlinge 80 cm mit Schnappkarabiner, die man irgendwo in das Verbindungsmittel einhängt, damit er entlasten kann. Leider ist das nicht Standard, denn das hätte viele Probleme erspart, wenn der Kollege auf der Plattform das sofort gemacht hätte.
Gut. Schlinge. Reinsteigen. Es war aber sofort klar: Das geht nicht mehr. Auch gut, oder eigentlich: Ganz schlecht. Umschalten auf „so rasch wie möglich auf sicheren Grund bringen.“ Ich wusste, ich hatte nur einen Versuch, ihn auf die Plattform zu ziehen, ansonsten wäre runterschneiden angesagt.
Obwohl ich von der falschen Seite gekommen war, gelang es zu zweit unter Aufbietung aller Kräfte ihn auf die Plattform zu ziehen. Er saß dort sehr erschöpft. Nun ist eine Plattform kein Platz für eventuelle Erste Hilfe (so mit Wiederbelebung usw.), daher ließ ich ihn mittels HMS hinunter. Ein anderer Trainer hatte unten einen Backup-HMS, daher konnte ich den TN von der Plattform lassen.
Soweit so gut.
Es ist phänomenal, wie viele Fehler man macht, die meines Erachtens nicht vermeidbar sind. Ich hatte überlegt, von welcher Seite ich komme. Eine Zipline hinaufhangeln und 2 Elemente gehen, oder normaler Einstieg und über 8 Elemente? Entscheidung die 8 Elemente. Das Problem: ich hatte mir die falsche Frage gestellt und endete auf der falschen Seite des Verunfallten. Es war reines Glück, dass ich ihn dennoch mit Hilfe raufziehen konnte. Wenn ich von der anderen Seite gekommen wäre, wäre das deutlich einfacher gewesen.
Falsche Frage: Wie komme ich am besten zum Verunfallten?
Richtige Frage: Wie komme ich zu der Stelle, wo ich am besten retten kann?
Der erste Versuch gelang, und das wäre auch der letzte gewesen. Die nächste Lösung wäre nur ihn abzuschneiden. Denn aus fast nix einen Flaschenzug oder eine Wippe bauen, womit ich eine 100-Kilo-Person heben kann, hätte zu lange gedauert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ausreichend Material gehabt hätte, ihn aus den Verbindungsmitteln zu heben.
Okay, Schneiden, ich habe immer einen Leatherman mit. Ooops … mit? Der lag sehr gut auf der Plattform in einem anderen Rucksack. Das hatte natürlich seine Gründe, aber die sind Nebensache.
Na gut, es hätte 5 Minuten gedauert, jemanden hinzuschicken und zur Plattform hinaufzuziehen, aber das könnten 5 Minuten zu viel sein. Und im Stress gelingen den umstehenden Leuten die einfachsten Handgriffe nicht, wie ich aus einem vorangegangenen Unfall weiß.
Das wird mir nicht mehr passieren: 


So – nun die Analyse:
1.       Immer, wirklich immer das Material beisammen haben, egal, wo man ist, ob man überhaupt „in charge“ ist. Willst du retten, musst du Zeug haben.
2.       Es hilft eine Checkliste für „Jemand hängt irgendwo“:
A) Material -à Gurt, Helm, Karabiner, Seil, Schlingen, Messer.
B) Richtiger Einstieg: Von wo kann ich am besten helfen?
C) Sofort Steigschlinge geben und sagen „Aufstehen“. Beim Hängen das Wichtigste. Solange der andere aufstehen kann, ist es etwas entspannter.
D) Kann ich ihn zur Plattform ziehen? Wenn ja, Tu‘s, wenn nein: Schneiden und runterlassen. Es sei denn, du hast eine schnellere Entlastungsmöglichkeit als Schneiden.
E) unten angekommen ganz normale Erste Hilfe. Die kruden Regeln, wie nur nicht hinlegen bis sogar „waagrecht hängen lassen bis die Rettung da ist“ (ja das gibt’s!) vergessen. Sitzen lassen oder hinlegen, wenn bei Bewusstsein. ABC wenn bewusstlos.

Thats it.

Und es ist immer wieder spannend, wie aufregend so etwas ist, wenns einmal ernst wird. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und ich machte viele kleine Fehler.
Die halte ich für unvermeidbar, daher sind folgende Kompetenzen für Retter wichtig:
1.       Umgang mit Unvorhersehbarem. Viele Situationen mit verteilten Rollen durchspielen, als ob‘s ernst wäre.
2.       Lernen, ohne Hilfe zu arbeiten
3.       Fehlerkompetenz (z.B. sich auch nicht durch schwere Eigenfehler nicht rausbringen lassen)
Und für mich persönlich gilt: Pass auf vor allem bei Train the Trainerkursen. Alle drei Rettungen waren bei Trainerausbildungen – bei einer Zielgruppe, wo man es nicht erwartet.

Hier ist meine Checkliste in meinem Materialsack:

PS.: Bei Retterausbildungen wird einem eingebläut,  dass man Hängetraumatisierte nur ja nicht hinlegen darf. Das hat sich nun als modernes Märchen entpullt, mehr als 40 Jahre nachdem es das erste mal erzählt wurde.

PPS.: Das Lustigste zum Schluss. jeder fragt sich natürlich: Wo war der Rettungssack?
Der ist absichtlich im Office gelassen worden, damit er nicht gestohlen wird. 
Niemand hat an diesem Tag mit einer Rettung gerechnet.